#5  Muggibude - Unser Alltag

Für alle, die die Geschichte von Emily Perl Kingsley noch nicht kennen, hier zum Reinfühlen. Ganz deckungsgleich mit unserer Situation ist das nicht, weil ich nicht in großem Maße nachtrauere oder einen großen Verlust spüre (als hätte ich etwas verloren, was ich bereits hatte, dem ist aber tatsächlich nicht so: ich habe ja das größte Geschenk überhaupt erhalten, ein lebendes und (vermutlich größtenteils) glückliches Kind!) … aber lest selbst:

 

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Willkommen in Holland

“Ich werde oft gefragt, wie es ist, ein behindertes Kind großzuziehen, um Menschen, die diese einzigartige Erfahrung nie gemacht haben, dabei zu helfen, dies zu verstehen und um sich dieses Gefühl vorstellen zu können.

Es ist wie folgt…

Wenn man ein Baby erwartet, ist es, als würde man eine wundervolle Reise nach Italien planen. Man deckt sich mit Reiseprospekten und Büchern über Italien ein und macht sich großartige Pläne: das Kolosseum, Michelangelos David, eine Gondelfahrt in Venedig. Man lernt vielleicht noch ein paar nützliche „Brocken“ Italienisch. Es ist alles so aufregend.

Nach Monaten ungeduldiger Erwartung kommt endlich der langersehnte Tag. Man packt die Koffer, und es geht los. Einige Stunden später landet das Flugzeug. Die Stimme der Stewardess aus dem Lautsprecher sagt: „Willkommen in Holland!“ „Holland?!? Was meinen Sie mit Holland? Ich habe eine Reise nach Italien gebucht! Mein ganzes Leben lang habe ich davon geträumt, nach Italien zu fahren!“

Aber der Flugplan wurde geändert. Du bist in Holland gelandet, und da musst du jetzt bleiben. Wichtig ist, dass du nicht in ein schreckliches, dreckiges, von Hunger, Seuchen und Krankheiten geplagtes Land gebracht worden bist. Es ist nur anders. Also musst du losziehen und neue Reiseführer besorgen. Und du musst eine komplett neue Sprache lernen. Und du triffst eine ganze Reihe andere Menschen, die du in Italien nie getroffen hättest. Es ist nur ein anderer Ort, langsamer als Italien, nicht so glitzernd wie Italien.

Aber nach einer gewissen Zeit an diesem Ort und wenn du dich von deinem Schrecken erholt hast, schaust du dich um und….du entdeckst, dass Holland Windmühlen hat….Holland hat auch Tulpen. Holland hat sogar Gemälde von Rembrandt. Aber alle, die du kennst, beschäftigen sich damit, nach Italien zu reisen oder aus Italien zu kommen….und alle prahlen damit, welche wunderschöne Zeit sie dort verbracht haben.
 Und für den Rest deines Lebens sagst du dir: „Ja, Italien, dorthin hätte auch meine Reise führen sollen. Dorthin hatte ich meine Reise geplant.“
 Und der Schmerz darüber wird nie und nimmer vergehen….denn die Nicht-Erfüllung dieses Traumes bedeutet einen großen Verlust für dich. Aber….wenn du dein Leben damit verbringst, dem verlorenen Traum der Reise nach Italien nachzutrauern, wirst du nie offen dafür sein, die einzigartigen und wundervollen Dinge genießen zu können….in Holland.”

 

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Heute nehme ich euch mit auf eine Reise:

Ihr könnt uns diesmal begleiten, und zwar 24 Stunden lang. 
An einem ganz normalen Tag unseres Lala-Lebens.


Was unterscheidet unseren Alltag von dem mit gesunden Kindern?

Nun, zuallererst: ich kann es nicht beurteilen, weil ich nicht weiß, welche Kämpfe Eltern von gesunden Kindern Tag ein Tag aus auszufechten haben. Ich habe aber die starke Vermutung, dass unsere Kämpfe nicht ganz unähnlich sind. 

Bei uns kommt noch ein Extra obendrauf: Ein Extrabedarf an Flexibilität, ein Extrabedarf an Muskelkraft und Energie, ein extra Aushalten von Ungewissheit, ein nicht unwesentliches Extra an Pflege und viele zusätzliche Nebenberufe wie Anwältin, Protokollantin, Aktenführerin, Physiotherapeutin, Logopädin, Schlafbegleiterin, Krankenkassen-Bespaßerin, Terminverwalterin und viele mehr.

 

Was ist also bei uns so los im Alltag? Ein normaler Tag. Mit dem Mindestmaß an Anstrengung. Mehr will ich euch heute noch nicht zumuten 😉

 

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Der Wecker klingelt werktags um 06:40 Uhr. Das erste Mal. 

Variante 1: M schnarcht entweder darüber hinweg und mit Verlaub – so schnell wie sie nachts bei jedem Pieps aufwacht, so gut kann sie morgens über das Klingeln hinweghören. 

Variante 2: M ist sofort erschrocken wach und teilt mir mit, was sie vom Tag erwartet: „Nein Kita!“.

Ich reibe mir die Augen, das Gesicht, strecke mich, gähne laut, und erfahre, dass M verstanden hat, wie es mir geht: „Mama nüüüde“. 
Ja, kann ich so bestätigen. Ich bin nämlich immer müde. 110% müde. Nie von ihr, aber doch immer.

Variante 3 im Aufwach-Modus ist, dass M mir grantig-motzend mitteilt, dass sie jetzt folgendes machen wird: „M slafen“. 
Gut, ist jetzt nicht ganz der richtige Zeitpunkt dafür, aber ich habe gelernt, äußerst flexibel zu sein und schenke ihr noch mindestens zwei Snooze-Phasen.

Nicht ganz uneigennützig: Ich will nämlich leise ins Bad schleichen, während Ms Augen auf Halbmast stehen, und – IN RUHE – auf die Toilette gehen, Zähne putzen, mich waschen, anziehen usw. Was man halt als Erwachsener gerne so morgens im Bad – IN RUHE – macht.

Hehre Ziele, wie sich herausstellt. Nein: utopische Ziele. Sind wir ehrlich: nicht realisierbare Ziele. 

M macht meine morgendlichen Pläne sofort mit einem lauthals geäußerten „Mama liegen, Eiei, Mama, Mamaaa, Mamaaaaa!“ zunichte.

Na gut, was ein Glück, dass ich auch unter widrigsten Umständen kein Morgenmuffel bin. Wirklich nicht. Ich bin die Lerche, ich bin diejenige, der morgens um 6:00 Uhr generell schon die Sonne aus dem Allerwertesten scheint. Egal wie die Nacht war. Glück gehabt.

Also weiter im noch nicht gestarteten Tagesablauf: Jetzt liege ich wieder bei M, streichle sie behutsam wach, befolge das beauftragte „Eiei“, und „nein, da!“, also am Rücken und nicht an der Backe, es muss schon alles seine Richtigkeit haben.

Langsam geht mein Puls nach oben, die Uhr tickt.
Es ist nun 07:20 Uhr, wir liegen immer noch im Bett. Niemand ist angezogen. Niemand hat den Kindergarten-Rucksack gepackt. Niemand hat Zähne geputzt. Niemand hat der Mama einen Kaffee gemacht (!).

Kurzerhand erkläre ich M, dass wir jetzt aufstehen MÜSSEN, sie hat das schon verstanden, sagt aber trotzdem „Nein.“, ich mache ihr den Platz im Bad schmackhaft und versuche sie mit diversen Angeboten in eine gute Grundstimmung zu locken: „Schau, Tobi und Susi (ihre tierischen Gefährten) sind auch schon im Bad und putzen jetzt Zähne. Kommst du mit? Gehen wir auch ins Bad? Die warten schon auf uns.“

M rollt auf dem Bett zu mir – Erleichterung!!! – und ich hebe ihr 13,5-Kilogramm-Körperchen hoch, trage sie ins Bad, und setze sie sanft auf der dort liegenden Matratze ab. 

Schlafanzug ausziehen, Windel ausziehen, Gesicht waschen, Zähne putzen („Nein, nicht Zähne!“), Windel anziehen („Tobi auch Windel!“), Kleidung anziehen („Alleine, Mama weg!“) alles im Schnelldurchlauf, Ms Laune und Geschrei ignorierend, schaffen wir das inzwischen relativ zügig. 
Dann kommen noch Brille, zeitweise ein Augenpflaster (Okklusionspflaster zur Behandlung des Schielens), die Daumenorthese (Spastik in der linken Hand) und Fußorthesen an das kleine Menschlein dran – was selten Begeisterungsstürme auslöst. (Neuerdings haben wir 8-teilige Bein-Orthesen, von den Zehen bis zur Leiste: das löst auch bei mir keine große Euphorie aus. Aber was tun, wenn es notwendig ist? Gute Miene und: motivieren, motivieren, motivieren.)

Mein innerer Monk hüpft vor Freude, weil wir tatsächlich schon mit allem fertig sind.

Doch ich habe die Rechnung ohne die Wirtin gemacht. Und die Wirtin hat sich gemerkt, was ich mit meinen Lockversuchen angeboten hatte. 

Richtig: Tobi und Susi möchten auch ausgezogen, gewaschen, gewickelt und angezogen werden, und nicht vergessen, Zähne müssen auch geputzt werden! 

Die Uhr zeigt inzwischen 08:05 Uhr.
Ich bin immer noch im Schlafanzug. Spätestens um 08:30 Uhr muss M in der KiTa abgeliefert sein, sonst ist die Tür zu. 

An diesem Punkt denke ich mir oft: Gut, ich bin eigentlich jetzt schon recht k.o., mein Tag dürfte dann jetzt vorbei sein. Ich mache heute blau.

Geht aber nicht. Also hopp hopp, ebenfalls fertig machen, zwischendrin weiter bespaßen und parallel M so langsam, aber sicher darauf vorbereiten, dass eben heute schon KiTa angesagt ist.

M weiß auch genau, was Mama macht, während sie in der KiTa „arbeitet“. Ebenfalls arbeiten. „Mama adeiten! M KiTa“. 
Jupp, so läuft der Hase.

Frühstücks- und Getränkeangebote wurden von M zwischenzeitlich übrigens mehrfach abgelehnt.

Gegen 08:12 Uhr habe ich dann Hummeln im Hintern und meine gelassene Grundstimmung habe ich auf dem Weg zwischen Schlafzimmer, Bad und Tiefgarage irgendwie verloren.
Vor allem dann wird’s schwer für meinen ohnehin kurzen Geduldsfaden, wenn ich M vom Bad hochhebe, in ihren Buggy setze, ihr die Jacke versuche anzuziehen (Warum sind diese Kinderjacken einfach nur so besch*** schwer anzuziehen???) wir mit dem Aufzug zum Auto in die Tiefgarage fahren, ich M ins Auto setze und anschnalle, den Buggy zusammenklappe und in den Kofferraum schmeiße (ich war bestimmt HULK in einem meiner früheren Leben) und mir M ihren Tagesplan rauf und runter betet: „Nein KiTa!“.

„Gut“, sag ich dann. „Später Kita“, ist meine Antwort. Und pokere dabei mit der hoffentlich noch länger andauernden Unfähigkeit von Kleinkindern, Zeiträume exakt einschätzen zu können. „Später, otee“ ist ihre Antwort. Ich denke: 5 Minuten später ist auch später. Gelogen habe ich also nicht. Und lügen will ich nicht, ja, da ist die Anspruchshaltung einer ganz normalen Mama wieder.

Die Fahrt zur KiTa ist meist entspannt, weil „M schauen“ muss. Sie fährt gern Auto, kommentiert, was sie sieht, beschreibt die Umgebung, und möchte am liebsten selbst fahren. 
Manchmal muss ich ihr das ausreden, manchmal kommt mir ein Mega-Ereignis zu Hilfe: Die Ampel ist rot. 
„Rot, stehen“, befiehlt mir M. Mach ich glatt. Erkläre dazu, dass wir erst wieder fahren dürfen, sobald grün ist. Sie meint: „Nein, dlau“. Gut, blaue Ampeln habe ich persönlich noch nicht gesehen. Aber wer weiß das schon, was M alles gesehen hat.

Am Parkplatz des Kindergartens angekommen hieve ich den Buggy aus dem Kofferraum, schnalle M ab, hebe M aus dem Auto, setze sie in den Buggy, wir fahren zum KiTa-Eingang, ich prüfe nochmal ob Fuß-Orthesen, Orthesen-Handschuh, Brille, Okklusionspflaster, ob alles an seinem Platz ist oder aus unerfindlichen Gründen das Pflaster am Autositz klebt und die Brille im Fußraum mitfährt, und ob ich Ms Brotzeit-Rucksack inkl. Inhalt habe. An manchen Tagen musste ich vielleicht deshalb schon mal umkehren (#momoftheyear).

Wir klingeln in der Hasengruppe. Es ist 08:26 Uhr. 
Einatmen, Ausatmen. 

Wir sind gut in der Zeit.

Vor Corona: also raus aus dem Buggy, rein in den Rollstuhl – der derzeit immer im Kindergarten steht – und gefühlt 47 Mal verabschieden. Die Erzieherinnen und Heilerziehungspflegerinnen, die M aktuell morgens entgegennehmen, haben glücklicherweise eine Engelsgeduld mit uns, sodass wir bisher nie das Gefühl hatten, gehetzt zu werden. Noch Schuhe ausziehen, Hausschuhe anziehen – ja, auch M braucht welche – und dann ab zum Händewaschen. Das soll laut Mitarbeiterin jedes Kind selbst machen (?). Bei uns heißt das, ich plane einige Minuten extra ein, um Ms Hände zu waschen. Dann ab in den Gruppenraum. 

M ist "Intergrativkind" - wie es "so schön" heißt, im Regelkinder-garten, ein großes Mädchen, in der Hasengruppe. Und wird – so wie wir bisher rückgemeldet bekamen – von allen gemocht und geliebt. 
Einatmen, Ausatmen.

 

Seit Corona: Die Erzieherinnen übernehmen ab der Kindergarten-Haustür. Je nach Perspektive gibt es auch entlastende Entwicklungen in pandemischen Zeiten. 😉

Mit M, die ja bis zu diesem Zeitpunkt schon sehr viel erlebt hat und alles erzählen muss, dauert das ein wenig länger („Mama eiei“, „Mama Bad“, „M Auto“, „Dün, nein, Dlau!“ usw). 
Außerdem berichte ich parallel der Erzieherin zwischen Tür und Angel, was in der Nacht los war, wie M gelaunt ist, welche Therapien heute anstehen, was wir an Therapien oder Geräten planen, wie der Stand dazu ist, welchen Entwicklungsschritt ich bei M vermute, was aktuell also ganz besonders gefördert werden sollte... 
Und das alles dank Corona an der Haustür, so dass alle anderen Kinder und Eltern mithören können. Dank Corona – oder Dank Auslegung des Hygienekonzeptes dürfen Kindergarten-Eltern nämlich nicht mehr ins Gebäude.

 

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Ich wurde mal von einer Mama gefragt, ob M es nicht besser hätte unter „Gleichen“ groß zu werden, also mit anderen Rolli-Kindern oder eben nur mit Kindern mit Behinderungen, geistiger oder körperlicher Natur. Mein Augenrollen dazu konnte ich kaum verstecken, so „exklusiv“ gedacht empfand ich das. Und eben solche Fragen reißen mich aus der Gelassenheit und manchmal auch aus meinem Konzept als Inkluencerin.

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Nach unseren vielfachen Verabschiedungen wird M in die Gruppe geschoben, und ich fahre nach Hause ins Homeoffice, an meinen Arbeitsplatz.

Bis 15:00 Uhr ist mein werktägliches Arbeitsleben recht selbstbestimmt und ich bearbeite Aufträge ohne größere Unterbrechungen. Das ist sehr entspannend. Und wenn ich das schreibe, meine ich nicht gleichzeitig das Gegenteil, dass es mit M immer unentspannt wäre. Ganz und gar nicht. Ich sage damit nur, dass es auch mal schön ist, nur für sich zu entscheiden, was wann wie erledigt wird. Und dass es schön ist, in einem Flow zu sein. Einen Gedanken zu Ende denken zu können. 

Danach hole ich M aus der KiTa ab und sie sagt mir, was ich den lieben langen Tag gemacht habe: „Mama adeiten“. Das fasst mein Tageserlebnis ganz treffend zusammen. 

Da sie mir nicht erzählen kann, was genau sie gemacht hat, stelle ich meistens direkt bei Abholung meine Standardfragen: War was in der Windel, wie viel hat sie gegessen, wie lange stand sie im Stehgerät, konnte sie auch mal auf dem Bauch liegen, um den Rücken zu entlasten, hat sie mittags geschlafen, welche Übungen wurden mit ihr gemacht, wie klappt es mit dem Rollstuhl, wie klappt es mit den anderen Kindern, was haben die Kinder heute gespielt...?

Die Antworten sind meist knapp. M muss warten, bis ich alle Antworten bekommen habe. Zumindest die wichtigsten.

Dann laufen wir zum Auto, Kind hineinheben, anschnallen, Buggy rein wuchten, „M Hunger“ – aha, jetzt? – wir fahren los. 

Manchmal weiß ich an diesem Punkt noch gar nicht wohin. Einfach weil mein Gehirn gefühlt kurz mal ein Nickerchen braucht. Ich kann dann nicht planen, nicht voraus denken, nicht einfühlen, was ich schaffe, was gut für M wäre. 

Bis zum Abendessen brauchen wir aber noch Beschäftigung.
 

Und hier kommt mein Energie-Level ins Spiel: 

Das nämlich beeinflusst das Spaß-Level meiner Tochter immens. 

Und das macht mich von Zeit zu Zeit traurig. 

Im Alltag fehlt mir nämlich durch den täglichen Kraftsport – M hochheben, hinsetzen, hinlegen und das Ganze bei Ms erhöhtem Muskeltonus in den Extremitäten – also Beine und Arme, bei gleichzeitig geringer (hypotoner) Muskelspannung im Rumpf, Ms Physiotherapie zu Hause und auch durch das Getrennt-Erziehenden-Dasein – schlicht und ergreifend die Energie, am Nachmittag noch etwas zu unternehmen, das ebenfalls mit Kraftaufwand verbunden ist: 

Ein Spielplatz-Besuch zum Beispiel (zusammen mit M die Rutsche hochklettern, gemeinsam runterrutschen, oder gemeinsam schaukeln). Oder jemanden treffen, im Garten spielen, im Sandkasten, mit Action. Freundschaften, soziale Kontakte pflegen.
 

Freundschaften pflegen, im Übrigen: Das geschieht ja nicht, wenn man es einmal macht. Das geschieht über einen längeren Zeitraum, es ist ein Prozess. Manche haben dafür kein Verständnis, dass ich die Kraft dafür nicht mehr aufbringen KANN. Viele Freundschaften und Kontakte sind in die Brüche gegangen. Und doch haben sich in den letzten Jahren auch ein, zwei neue Freundschaften entwickelt. Und dafür bin ich unfassbar dankbar. (Liebe geht raus an N und A und F und M!)

In der Zwischenzeit bereitet nämlich niemand das Abendessen vor oder bringt den Müll runter oder das Leergut weg oder kauft ein oder putzt meine Fenster oder saugt Staub oder zieht die Betten ab oder wischt die Böden oder putzt das Bad oder wäscht die Wäsche oder legt die Wäsche zusammen oder führt Telefonate mit Ärzten, Anwälten, Krankenkassen, Sanitätshäusern oder Therapeuten. Oder reflektiert zwischendrin „exklusive Gedanken“ wie oben beschrieben. Für Teile davon brauche ich nämlich am Tagesende noch Energie.

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17:00 Uhr:
Wir sind spätestens jetzt zuhause angekommen und turnen noch eine Runde auf der Galileo® Wackelplatte, zur Stabilisierung des Rumpfs, zur Stärkung der Muskulatur, zur Einübung von Positionen. Das "erledigt" ein gesundes Kind quasi nebenbei im Laufe des Tages, wir brauchen dafür extra Zeit und Kraft und einen Termin.
„Mama auch!“, wie mir aufgetragen wird.

17.30 Uhr:
Zeit für Essen. Eine der Lieblingsbeschäftigungen von M. Unfassbar, wie jung man schon als Gourmet durchgeht. Nicht zu verwechseln mit Gourmand, der viel und gerne isst. Mein Kind ist ein Feinschmecker, es mag guten Käse, Brot mit Körnern, Oliven, herzhafte Soßen, und schmeckt sofort raus, wenn irgendwas nicht mehr ganz frisch ist. Sie genießt jede Mahlzeit und sitzt auch gut und gerne mal 1,5 Stunden beim Abendessen. Mit Vorspeise, Hauptgang und Nachtisch versteht sich. Ich persönlich finde das großartig, M ist nämlich damit auch gut als Wirtshaus-Kind geeignet , sie ist eine wunderbare Begleitung für Restaurant-Besuche jeglichen Levels und möchte jederzeit gerne die Teller durchtauschen, mehrfach.

Nach 19 Uhr wird unser Abendprogramm abgefahren, wobei wir das unterschiedlich wahrnehmen: ich bin in Eile, da ich schnell das Abendessen wegräumen will, ratzfatz die Küche aufräumen will, Ms Brotzeit für den nächsten Tag vorbereiten möchte und dann noch ganz entspannt mit M ins Bad und uns beide duschen will. M darf währenddessen auf der Couch glotzen: Malbuch-Videos, Kinderlieder-Videos usw. 
Jedoch ist sie offenkundig von den meisten Videos gelangweilt, dass sie mir im 10-Sekunden-Takt befiehlt: „Anderes!“. Wir schauen also beide in den Fernseher und suchen das „Andere“ für M. Ein Hoch und ein herzliches Dankeschön an diejenigen, die erfunden haben, mehrere Kinderlieder in ein einziges Video zusammen zu fassen, das dann über 12 Minuten läuft. 
Etwa die Zeit, in der ich Küche aufräume und Brotzeit herrichte.

Ms Wahrnehmung ist wohl eher auf die Frage ausgerichtet, wann ich denn jetzt endlich mit ihr gemeinsam fernsehe.

Um 19:30 Uhr landen wir spätestens im Bad, ich mache mich ebenso Bett fertig, werde an diesem Abend wohl nicht mehr ausgehen. Also ab unter die Dusche, M auf den Duschboden auf ein Tuch setzen (Duschboden unter nacktem Popo zu kalt: jeder kennt's. Baby-Badewannen zu klein für große Kleinkinder), ein paar Mal „Es regnet, es regnet, es regnet seinen Lauf…“ singen, mich duschen, M duschen, M raus aufs Handtuch heben, sie sich selbst „eintremen“ lassen, überall – auch in den frisch gewaschenen Haaren – Creme vorfinden, darüber hinwegblicken, und dann frisch gekuschelt in den Schlafanzug meine M ins Bett tragen.

20:00 Uhr:
„M slafen.“ Ja, das wäre Mamas Plan. Ein Buch anschauen, den tierischen Gefährten Gute-Nacht sagen, auch den Büchern Gute Nacht sagen. Dem Papa imaginär eine Gute Nacht wünschen. Allen Omas und Opas sowieso. Den Onkeln und Tanten auch. Und dem nicht bei uns wohnenden Kuscheltier Esi ebenso und erklären, dass der Esi beim Papa wohnt. Ein Thema, das wohl nur Trennungskinder kennen. 

Auch das muss M kompensieren, neben aller Frustration über die inzwischen für sie wahrzunehmende Einschränkungen.
 

Und so liege ich neben ihr, streichle sie mit Krampf im Arm in den Schlaf, so lange bis sie genügend Sicherheit gefühlt hat, um ins Land der Träume zu fliegen. Ich schleiche mich raus, und hoffe, dass diesmal das Holz-Bett beim Aufstehen nicht knarzt.
Es ist mindestens 20:45 Uhr.

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Für viele beginnt jetzt der gemütliche Teil des Abends, rauf auf die Couch, noch etwas Lesen, vielleicht Telefonieren, oder ein Glas Wein. 
Ich muss mir das ganz genau überlegen und priorisieren. 

Auch wenn ich damit vielleicht selbst verschuldet einige Freundschaften und Bekanntschaften verloren habe. Die nächsten 1,5 Stunden gehören ausschließlich mir. Jeder, der Teil dieses Zeitfensters ist, darf sich also glücklich schätzen.

Spätestens nach zwei Stunden wird M nämlich dank ihrer Schlafstörungen wieder wach sein und erneut nach der einst gewonnenen Sicherheit verlangen, um wieder einschlafen zu können. Oder nach Wasser. Oder sie hat einen schlechten Traum. Oder sie schreit von jetzt auf gleich los und lässt sich über eine Stunde lang nicht beruhigen. Oder sie will aufs Klo getragen werden (sie trägt noch Windeln, aber auch sie soll ja irgendwann sauber werden). Oder sie will auf meinem Bauch schlafen. Oder sie bittet um „Umdrehen“.

Das geht so in etwa im Zwei-Stunden-Takt, bis der Wecker um 06:40 Uhr klingelt.

„Mama nüüüde!“ Oh ja, das bin ich. Und wie!

„M wach!“. Oh ja, das bist du. (Wie steckst du das weg, kleine M, so wenig Schlaf?)

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Ich fühle mich exhausted partnered with pride, also erschöpft gepaart mit Stolz!

Wenn wir den ganzen Alltag überstehen und es uns dabei irgendwie schön machen: 
die alltäglichen schlaflosen Nächte, 
die alltäglichen regulären Kleinkind-Kämpfe mit Anziehen, Ausziehen, Zähne putzen etc., 
die alltäglichen Kraftsportübungen,
die alltäglichen Herausforderungen mit Krankenkassen, 
die alltäglich notwendige Flexibilität, 
das alltägliche Reflektieren vom Relativieren unseres Alltags mit behindertem Kind durch Menschen im Umfeld („Jaaa, unsere Kinder schlafen auch nicht jede Nacht durch…“), 
das alltägliche Suchen und Finden von den richtigen Therapien (Ich habe keinen Ratgeber an der Hand, was man standardmäßig bei Ms Diagnose macht – frühkindliche Hirnschädigung, ICP, infantiler Cerebralparese, nicht heilbar – macht, den gibt’s schlichtweg nicht),
 das alltägliche Wachsein und Impulse-Erkennen, was mögliche neue Entwicklungsschritte angeht (denn für Kinder mit Entwicklungsstörung gibt es keine reguläre Abfolge von Meilensteinen), 
das alltägliche Aushalten von vielerlei Frustration, zum Beispiel wegen Trennung der Eltern oder wegen fehlender Mobilität, 
das alltägliche Mama-Sein, 
das alltägliche Kind-Sein (denn das soll M sein dürfen! Nicht immer nur müssen!), 
das Schön-Machen, 
das Schaffen von Leichtigkeit, die ich als so unfassbar wichtig erachte für die kindliche Entwicklung und auch für mein Wohlbefinden, dann können wir doch sagen: 
Jawohl, wir können stolz sein. Und dürfen erschöpft sein. 

Ich wünsche mir, dass andere Menschen diese Erschöpfung, dass mein Umfeld diesen Kraftakt, dieses Extra an Anstrengung von Eltern mit behinderten Kindern, von Menschen mit pflegebedürftigen Angehörigen im weitesten Sinne, anerkennen, diesen Teil, den man nicht sehen kann.

Punkt.