#4 Träumen am See 


Mit dem Campingbus lassen sich theoretisch wunderbar spontane Ausflüge unternehmen. Wenn man mal davon absieht, dass das Packen mit Kind mit Behinderung doch einige Stunden in Anspruch nimmt. Hier habe ich definitiv noch eine Lernkurve vor mir: was muss dauerhaft im Bus bleiben, was kann raus, was ist sofort auszutauschen – damit das Einpacken, dieses lääääästige Einpacken nicht so viel Zeit in Anspruch nimmt.

Ein wenn auch kurzer Ausflug war im Mai 2021 inzwischen nötig, nachdem wir fast drei Wochen in Quarantäne (M) bzw. Isolation (ich) und mehrere Wochen davor immer wieder erkältungsbedingt ausgefallen waren (I was not amused!!!). 

Wir wollten an die frische Luft, ohne viel Brimborium, einfach raus, an einen See, unkomplizierte Menschen dabeihaben. Und so kam es, dass eine Freundin ihre Kids (damals 4 und 5 Jahre alt) in ihren Campingbus geschnallt hat, ich meine M in unseren Bus, und wir uns im schönen Marktl am Inn getroffen haben. Genau, bevor ihr fragt, von dort kam mal der Papst.

Marktl ist eine Stunde Fahrt von unserem Wohnort entfernt, und eine Autostunde braucht man mindestens, wie ich finde, um in Kurzurlaubsstimmung zu kommen. Weit genug weg von Zuhause, und doch ist man noch nicht erschöpft bei Ankunft am Zielort.

Wer unseren (ja, bis jetzt einzigen) Urlaubs-Blogartikel (->  #3) gelesen hat, weiß inzwischen mit welchen Wassern ich beim Busfahren gewaschen bin und welche nahezu überirdischen Multi-Tasking-Fähigkeiten ich besitze. Erfreulicherweise waren diese Skills aber während dieser Anreise überhaupt nicht (nicht mehr?) gefragt.

Was sich bis Mai 2021 nicht geändert hat: Unsere Klima-Anlage „funktioniert“ weiterhin akustisch, dafür recht ordentlich. Ich lasse Fahrer- und Beifahrerfenster offen, und so haben wir eine wunderbare Cabrio-an-der-Küste-Stimmung im Bus.    

M ist begeistert, schon allein vom Busfahren: keine Brotzeit, keine Bücher, keine Spiele, nichts ist nötig, um ihr die Fahrt erträglich zu gestalten. Sie staunt bei jedem Lastwagen, bei jedem Traktor, bei jeder Abbiegung, jedem Gangschalten, bei jedem Kommentar über andere Autofahrer meinerseits. Sie ist rundum zufrieden als kleinster mir bekannter Beifahrer der Welt zu eng genommene Kurven ebenfalls mit einem „Huiiii“ zu kommentieren, und dann ihre Beinchen wackeln zu lassen, als würde sie selbst den Campingbus steuern.

Und ich komme ins Träumen: Wird sie vielleicht mal Rennfahrerin? 

In Marktl am Inn angekommen treffen wir auf drei Freunde, die schon ganz heiß auf den Badebesuch sind, und ruckzuck in voller Montur mit Taucherbrille, Schwimmflügel, Schnorchel am Weiher stehen. Der Parkplatz am Weiher lädt auch zum Übernachten ein. Laut Schild ist nur Zelten verboten, aber wir zelten ja nicht (ich: Klugscheißer). 

Wir Mamas schleppen noch flink das – minimal notwendige – Equipment an den See, ich schiebe simultan M im Buggy über die Wiese und liege dann erstmal. Ich im Wasser. M am Ufer. Besser gesagt sie sitzt. Inkl. UV-Mütze, UV-Hemdchen und Badewindel. Eimerchen und Becherchen vor sich. 

M könnte dort wohl den ganzen Tag verbringen. Für sie scheint das total aufregend zu sein, wenn ich immer wieder komplett im See ab- und wieder auftauche. Jedenfalls macht sie mit wirbelnden Arm- und Fußbewegungen und Mimik exakt diesen Eindruck. Sicherlich jedes Mal wieder heilfroh, wenn die Mama wieder auftaucht. 

Wenn wir nicht im oder am Wasser sind, sitzt M zufrieden auf der Decke, brotzeitend (Oh du schöne Onomatopoesie!), glücklich.
 
Sie grüßt jeden neuen Besucher wie eine kleine Türsteherin, ruft auch mal lauter hinterher, wenn ein „Allo“ überhört wird, und lässt sich dennoch in ihrem Enthusiasmus nicht brechen. Vorbildlich.

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Im Außen passiert also nicht viel, in meinem Inneren umso mehr.

Ich bemerke die Blicke der umliegenden Badegäste, die sehen, dass ich mein kleines Mädchen trage, hinlege, hinsetze, wickle, füttere, im Buggy schiebe. 

Ich vermute, sie denken: Wieso trägt die die denn ständig rum? Wieso spricht das Kind den nicht richtig? Ist doch kein Baby mehr? Hoffentlich wird das Kind jetzt nicht laut! Was hat die denn bloß? OH die Arme!


 

 

 

Direkt ansprechen wird mich niemand, obwohl ich gemeinhin einen offenherzigen Eindruck vermitteln will und genauso aufgeschlossen auf andere reagiere wie M.

Dann liege ich so neben meinem unbeirrbaren Herzöffner-Kind auf der Wiese, schaue in den Himmel, sinniere und träume:

Wird sie mal Boss:in? Wird sie mal Restaurant-Testerin? Rennfahrerin? Schauspielerin? Musikerin? 


Wird sie studieren, wird sie ein Handwerk erlernen, wird sie im Büro arbeiten, wird sie das alles im Rollstuhl machen können, wird sie den Rollstuhl überhaupt brauchen, wird sie, wird sie, wird sie?


Große Ungewissheit.

Darf ich solche Träume überhaupt haben, kann sie alles werden, was sie will? 

Wird unsere Gesellschaft – also du und ich – werden wir so einladend inklusiv leben, werden die Rahmenbedingungen dafür geschaffen sein, werden wir alle wieder mehr miteinander denken statt gegeneinander? 
Meine Freunde, meine Angehörigen, meine Bekannten? 
Werden wir?

Warum fragen die Menschen nicht einfach? 
Wovor haben die Menschen Angst? Vor ihrer eigenen Neugierde, vor einer viel zu offenherzigen Antwort, wovor, vor anstrengenden, unbequemen, überfordernden Antworten, Worten? 
Es ist mir unverständlich. 

Ich denke mir: Ich wünsche mir, dass Menschen einfach wieder lernen, aufeinander zuzugehen, zu fragen, aktiv zuzuhören, Interesse zeigen, ehrliches Interesse. 

Auch wenn es in Zeiten der Pandemie viele sehr hart trifft, sei es finanziell oder psychisch: ich denke, eines hat die Isolation nur noch weiter an Oberfläche befördert, etwas, was zuvor schon existierte: Man interessiert sich nicht mehr füreinander, man ist schnell überfordert, wenn jemand eine ehrliche Antwort auf die Frage „Wie geht’s dir?“ gibt, man möchte lieber oberflächlich bleiben, und auch lieber im Ego-Zentrum. 
Warum? Es ist mir unverständlich.

Ich wünsche mir Authentizität und Offenheit: all emotions are beautiful. Zeige dich, dann sehe ich dich! Es kann dir nichts passieren.

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"M detig" - meine Gedanken müssen pausieren. M ist mit der Brotzeit fertig, es liegt alles schön verteilt und zermantscht auf der Decke, auch in den Haaren hängt Essen, wir gehen kurz im Weiher baden. So geht Hygiene im Sommer.

Dort spielen unsere mitreisenden Jungs wild im Wasser, tauchen und schnorcheln und kreischen und plantschen.

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Kinder sind ganz unbefangen untereinander, denke ich weiter. Sie fokussieren sich auf das Spiel. Auf das Miteinander. Nicht auf das, was für M aufgrund ihrer Behinderung nicht kann, sondern was sie kann. Und dennoch akzeptieren sie, was M nicht kann, fragen vielleicht ihre Eltern, wie es möglich gemacht werden kann.
 
Sie verkennen eine Behinderung nicht. Sie ist einfach ganz normal. Die Behinderung gehört einfach dazu.
Das ist das Paket.
Und das ist ein ganz wichtiger Punkt: sie schweigen nicht tot, sie relativieren nicht, sie klammern nicht aus.
M kann nicht toben? Spielt man halt andere Sachen mit ihr. Pragmatisch, denke ich, sind Kinder.

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Die Jungs bringen M ein paar Steinchen und "leckere" Algen für ihr Eimerchen und ihr Becherchen und spritzen uns nass. Wir machen eine kindlich angeordnete Algen-Maske für ein besseres Hautbild.

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Kinder sind untereinander so pur und menschlich zueinander, denke ich, sie konzentrieren sich darauf, was das Wesen des Gegenübers ausmacht, was die Charakterzüge sind, sie haben noch keinerlei Befindlichkeiten, sie wissen – so bin ich überzeugt - was uns Menschen alle eint, sie haben es noch nicht vergessen: 

Wir alle wollen miteinander sein, wir wollen geliebt werden, wir wollen gesehen werden, wir brauchen Nähe. Echte Nähe.

Und ich realisiere: Gehen wir doch Schritt für Schritt!

Es wäre doch schon mal ein Anfang, wenn auch Kinder wie M – mit Rollstuhl, oder vielleicht sogar Kinder mit Sauerstoffgerät, mit Magensonde – zu einem ganz stinknormalen Kinder-Geburtstag eingeladen werden. 

Fangen wir doch mal so an.