#2   Hilfsmittelablehnung, die 125.


Ein kleiner Einblick in unseren Alltag.

Eines vorweg: Unser Gesundheitssystem ist eines der besten der Welt. Wenn wir akut oder chronisch erkranken, können wir sicher gehen von sehr gut ausgebildeten Pflegerinnen und Ärztinnen in den besten Krankenhäusern der Welt behandelt zu werden. Auch Patienten aus der arabischen Welt fliegen regelmäßig nach Deutschland, um sich behandeln zu lassen. Zu Recht.
Das ist die gute Nachricht.

Die schlechte: Wenn man aufgrund Krankheit oder Behinderung auf Entscheider-Institutionen mit viel Geld angewiesen ist, fühlt es sich so an, als wäre man ein ohnmächtiger Bettler. 
Das richtet sich an Krankenkassen, medizinische Gutachter, an alle Entscheider, die das Leben mit Behinderung unnötig schwer machen (können).

Hilfsmittel hierzulande zu beantragen, die ein Arzt verordnet oder ein Therapeut für notwendig erachtet, also tatsächlich medizinisch nötig sind (!), grenzt an unverhältnismäßige und unverschämte, teilweise menschenverachtende Gängelung, systematische Blockade und schlichtweg Verschwendung von Geld und kostbarer Lebenszeit der Mitmenschen, die auf eine Versorgung mit Hilfsmitteln angewiesen sind. Das nenne ich diskriminierend.

 

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Leute, Leute, ich bin wütend. Ich bin sowas von wütend. Ich könnte die schlimmsten Schimpfwörter hinausbrüllen, die ich kenne. Und wer mich kennt: so bin ich eigentlich nicht. Ich nicke meistens, sage ein verständnisvolles „Mhm“ und denke mir den Rest. Leise. In Gedanken. N A C H D E M ich den Hörer aufgelegt habe.

Jetzt platzt mir aber der Kragen.


(Wie der Familie Lechleuthner, die übrigens eine Petition (gegen die systematische Blockade durch Krankenkassen bei der Versorgung von behinderten Kindern oder Familienangehörigen durch Hilfsmittel) startete: 

Link zur Petition, Link zum BR, der das Anliegen der Familie kurz porträtierte) 


 

Wieder einmal erhalte ich Post unserer Krankenkasse, nachdem ich ein Hilfsmittel beantragt habe. Wieder mal eine Ablehnung. Wieder mal geht das Prozedere los. 

Aber von vorne:

Was ich für mein Kind aktuell beantrage, weil die behandelnden Ärzte, Orthopäden und Therapeuten dies für erfahrungsgemäß den nächsten richtigen Schritt halten: einen Stehständer (Bilder). Nicht zum Stehen lernen. Denn Stehen lernt man nicht durch Stehen. Orthopädisch gesehen lernt der Oberschenkel-Knochen in diesem anmutenden „Folter-Instrument“ richtig in der Hüfte zu sitzen, damit das Gehirn lernt: aha, so fühlt sich stehen an und so stehen die Beine richtig (ohne X-Beine oder Senkfüße), so kann ich mein Körperchen selbst stabil tragen. Das Ganze ist also medizinisch notwendig, auch um keine Folgeschäden, wie zum Beispiel eine Hüftdysplasie, zu riskieren. 

 

Was von den Krankenkassen verstanden wird: Ich möchte für mein Kind eine sauteure Delfin-Therapie mit Chakren-Auspendelung und Aromatinktur [1], stationär für drei Monate in den USA, damit mein Kind vielleicht laufen lernt. 

 

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Meine (üblichen) To Do’s – ein Zweitjob gewissermaßen:

 

1. Ablehnungsgründe lesen. 

Es werden immer die gleichen Gründe genannt – quasi per Vordruck: Wirtschaftlichkeit sei nicht gegeben, kein erwiesener Nutzen (what the f***?), medizinische Notwendigkeit als Grundsatz nicht erfüllt (ernsthaft?), blablabla, das Hilfsmittel müsse eine Behinderung ausgleichen oder einer drohenden Behinderung vorbeugen können (Ja, Freunde der Gesundheitskasse, jetzt wird’s  langsam wärmer beim Topf-Schlagen!) 

 

2. Widerspruch innerhalb der vier Wochen-Frist einlegen. 

Erneut die Unterlagen einreichen, die beim Erstantrag offenbar nie ganz und wenn, dann unkonzentriert (oder überhaupt nicht?) gelesen werden. Wieder abwarten.

 

3. Bestätigung des Eingangs meines Widerspruchs erhalten. Begründung soll nachgereicht werden.

Ach, Freunde der Allgemeinen … Krankenkasse. Was ist das Problem? Ich habe angefordert, kopiert, eingereicht, nachgewiesen, begründet, und das mehrfach… es reicht.

Mir würde es an diesem Punkt echt reichen, vielen, vielleicht älteren Menschen oder Menschen mit kürzerem Atem reicht es wirklich an diesem Punkt. Und das ist Kalkül der Krankenkassen. Irgendwann hat der Antragsteller keine Lust, keine Kraft mehr, diesen lächerlichen Papier-Krieg zu führen. Und zack, hat sich die Krankenkasse wieder was gespart. Für den jetzigen Moment.  


Mir reicht es aber nicht, weil ich meine Tochter laufen sehen will, weil ich meine Tochter fördern will und auch fordern, mit allen (Hilfs-)Mitteln, die erwiesenermaßen ihre Entwicklung voranbringen. Damit sie eines Tages selbst vorankommt. Und eigenständig leben kann. Und eben keine Folgekosten aufgrund einer Behinderung generiert.

 

4. Abwarten.

Ich bleibe also dran. Und warte ab. 
Und nutze vielleicht zwischenzeitlich die kostenfreie Anti-Stress-App meiner Krankenkasse.

 

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Es gibt auch andere diskriminierende Beispiele: aus dem Leben eines Mannes, der inkontinent und auf Windeln angewiesen ist. 

Stell dir vor, dieser Mann bekommt von der Krankenkasse – nach Antrag freilich – ein Windel-Produkt bewilligt. Erster vermeintlicher Erfolg. Leider entspricht dieses Produkt aber weder in Qualität noch Quantität den Anforderungen. Die Windel hält nicht dicht, und die Anzahl der Windel ist nicht ausreichend. 

Ein Widerspruch wird abgelehnt, weil eine medizinische Notwendigkeit für ein teureres Produkt nicht nachgewiesen wurde. So der offizielle Wortlaut. 
 

Diesem Mann werden de facto im Monat 30 Windeln genehmigt. 
30 Windeln in 30 oder 31 Tagen. 
Gut, Februar ist dann wohl sein Glücksmonat. 
Das bedeutet nach Adam Riese und Eva Zwerg? 
Richtig: pro Tag eine Windel. 

Und jetzt kommt die Preisfrage: Und wie oft geht ihr so aufs Klo innerhalb von 24 Stunden, groß und klein?

Das ist kein Einzelfall. Bei weitem nicht. Und vermittelt auch nur annähernd den Hauch einer Ahnung, womit sich Familien, pflegende Angehörige und die Mitmenschen mit Beeinträchtigung herumschlagen müssen. Ganz zu schweigen von dem beschämenden Gefühl, das sich breit macht. 

Ist das etwa nicht diskriminierend? Ist das zu fassen? Ist das wirklich zu fassen? 

 

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Eine sehr gute Freundin fragte mich kürzlich, ob ich denn mit meinem Widerspruch Aussicht auf Erfolg hätte.

Meine Antwort: ja, bisher jedes Mal. Man muss nur lange genug bohren. Dicke Bretter bohren. „Lange genug“ meint mindestens 9-12 Monate. Tolle Aussichten sind das.



[1] Ich möchte hier nicht gegen derlei Heilmethoden sprechen, nur deutlich machen, was ich beantrage und erwiesenermaßen meine Tochter auf dem Weg ihrer Entwicklung hilft.

Tolle Aussichten, wenn man – was Kinder anbelangt – ein bisschen um die Zeitfenster in der Entwicklung weiß. Zeitfenster, die es in frühkindlichen Stadien umso wichtiger zu nutzen gilt, die man also nicht verstreichen lassen oder bewusst verschwenden sollte, weil sie manchmal nur kurz geöffnet sind und sich unbemerkt wieder schließen können.

An diesem Punkt bin ich meistens erst wütend und dann traurig. Ich fühle Ohnmacht während meines Bittstellertums. Ich fühle mich am kürzeren Hebel. Nein, ich weiß, ich bin am kürzeren Hebel.

Klar ist: Tatsächlich muss auch eine Krankenkasse wirtschaftlich denken, und darf nicht jeden Wunsch erfüllen, der nicht annähernd erwiesenermaßen positive Resultate liefert. 

Nur wie definiert denn eine Krankenkasse Wirtschaftlichkeit?

Hat sich mal jemand überlegt, wie wirtschaftlich es in Wahrheit ist, wieviel Geld dieses Brief-Hin-und-Her-Geschreibe kostet, wie teuer diese vermeintlichen Gutachten durch den MDK (ja, auch ein Allgemeinarzt darf das im Übrigen per Aktenlage begutachten!), die etwaigen Anwaltskosten, vielleicht Folgekosten vor Gericht, mit Sicherheit aber Folgekosten für den Patienten und und und?

Kann der Mitarbeiter der Krankenkasse oder des MDK, der „abgelehnt“ stempelt, nach getaner Arbeit in den Spiegel schauen und behaupten: ja, das habe ich heute gut gemacht, und sich dabei auf die Schulter klopfen? Kann der Mitarbeiter, dieser Mensch, der da an seinem Bürotisch steht, sich wirklich darauf berufen, dass es „halt sein Job“ ist, erstmal abzulehnen? Wirklich, kann er das?

Alle, die angehörige Erwachsene oder ein behindertes Kind pflegen, kennen diese Systematik in der Blockade durch Krankenkassen.
Das ist nicht tragbar.
Das ist Diskriminierung.

 

 

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Zum Mitschreiben für alle Entscheider:

Die UN-Behindertenrechtskonvention hat ein Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung verfasst und unterzeichnet. Dieses Dokument hat seit 03.Mai 2008 verbindlichen Rechtscharakter für die Vereinten Nationen.

Hier ein Auszug (und hier das ganze Dokument):

 

Artikel 3 - Allgemeine Grundsätze

Die Grundsätze dieses Übereinkommens sind:

[…]

 c) die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft;

 

d) die Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen und die Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt und der Menschheit;

 

e) die Chancengleichheit;

 

[…]

 

h) die Achtung vor den sich entwickelnden Fähigkeiten von Kindern mit Behinderungen

[…].

 

Artikel 4  -  Allgemeine Verpflichtungen

 

(1)    Die Vertragsstaaten verpflichten sich, die volle Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen, ohne jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu gewährleisten und zu fördern. Zu diesem Zweck verpflichten sich die Vertragsstaaten:

 

a)      alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zur Umsetzung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte zu treffen;

 

b)      alle geeigneten Maßnahmen einschließlich gesetzgeberischer Maßnahmen zur Änderung oder Aufhebung bestehender Gesetze, Verordnungen, Gepflogenheiten und Praktiken zu treffen, die eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen darstellen;

 

[..]

 

d)      Handlungen oder Praktiken, die mit diesem Übereinkommen unvereinbar sind, zu unterlassen und dafür zu sorgen, dass die staatlichen Behörden und öffentlichen Einrichtungen im Einklang mit diesem Übereinkommen handeln;  

e)      alle geeigneten Maßnahmen zur Beseitigung der Diskriminierung aufgrund von Behinderung durch Personen, Organisationen oder private Unternehmen zu ergreifen;

 

[…]


 
Meine Frage: Ob die Krankenkassen davon schon mal was gehört haben? 


 

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Wenn ich in die Zukunft blicke, wird mir manchmal ganz flau. Und ich möchte mich verkriechen. 

Ich werde für M vielleicht einen Rollstuhl beantragen müssen, vielleicht für uns Eltern eine stationäre Reha-Maßnahme für Mutter-Kind oder Vater-Kind, sicherlich Orthesen für die Füßchen, eventuell nochmals hochkalorische Zusatznahrung.

Puhhh...
 

Zwischenzeitlich erzähle ich M von Momo, aus dem Roman von Michael Ende. Und vom Straßenkehrer Beppo. Der kehrt den lieben langen Tag die Straße. Er verrät seiner Freundin Momo sein Geheimnis. Das ist so:

„Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang; das kann man niemals schaffen, denkt man. Und dann fängt man an, sich zu eilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedes Mal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt.

Und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst zu tun und zum Schluss ist man ganz außer Puste und kann nicht mehr. Und die Straße liegt immer noch vor einem. So darf man es nicht machen. Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du?

Man muss immer nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.

Auf einmal merkt man, dass man Schritt für Schritt die ganze Straße gemacht hat. Man hat gar nicht gemerkt wie, und man ist nicht außer Puste. Das ist wichtig.“

(Michael Ende)

 

Ende. Bis zum nächsten Widerspruch.

 

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