#1: Inklusion - Wie komme ich denn überhaupt dazu? 

Vor der Geburt meiner Tochter hatte ich ein paar wenige Berührungspunkte mit Menschen mit Behinderung. Auch der Papa meiner Tochter hatte diese Berührungspunkte. In unseren jungen Jahren waren wir unabhängig voneinander als sog. Zivi bzw. im Freiwilligen Sozialen Jahr in Einrichtungen, die Kinder und Erwachsene mit Behinderungen betreuen und begleiten. 

In meiner Einrichtung waren die Kinder zwischen 7 und 10 Jahren alt, teilweise mehrfach schwerstbehindert, sprich teilweise auf Rollstühle oder Ganzkörper-Therapiestuhl angewiesen, teilweise über eine Magensonde ernährt, teilweise mit einer leichten Gehbehinderung, teilweise völlig apathisch und scheinbar teilnahmslos. Querbeet konnte ich eine gewisse Bandbreite von möglichen Behinderungsgraden kennenlernen. 

Ein Mädchen mit einer Geh- und Seh-Beeinträchtigung war mit ihren 14 Jahren beim Fangen spielen schneller als ich, mit damals 20.

Ein anderer Junge, dessen Eltern eine Metzgerei betrieben, verschlang regelmäßig zur Brotzeit am Vormittag eine dicke Scheibe Leberkäse.

Und ein weiterer Junge, ein Lausbub wie Michel aus Lönneberga, mit schweren epileptischen Anfällen, hatte ein Lachen, das so laut und herzlich war, dass ich immerzu mitlachen musste.

Ich erinnere mich gerne auch an einen Jungen, komplett apathisch, der immerzu große Lust hatte zu kuscheln. Körpernähe, Wärme, eine Decke, vielleicht leise Musik: das alles zauberte ihm ein Lächeln auf das Gesicht. Andere Gefühlsäußerungen konnte man nur sehr selten erkennen.

Es waren die kleinen, feinen Eigenarten, die ich in den Kindern erkannte. Alle diese Kinder haben mein Herz im Sturm erobert. Und ich habe gespürt, was es für mich wertvolles bedeutet – aber vor allem für die Kinder, sie so anzunehmen, wie sie eben sind. 


***


 

15 Jahre später bin ich schwanger. Ein Wunschkind macht sich auf den Weg. Wir lassen alles testen, was so üblich ist, und noch ein bisschen mehr. „Dass man es zumindest weiß, wenn es ein extra Chromosom hätte“, haben wir uns gesagt. „Dass man sich darauf einstellen kann, wie das Leben werden würde“, haben wir uns vorgegaukelt.  „Dass man ‚entscheiden‘ könnte“, haben andere gesagt.

Die Entscheidung stand fest: M kommt auf diese schöne Welt, mit welchen extra Features auch immer. 

Mein Bauch konnte trotz unzähliger Tests und einer engmaschigen Beobachtung (weil Risiko-Schwangere) ungehindert groß und dick werden, sich Bilderbuch mäßig entwickeln, und nach fünf Monaten wurde ich schon gefragt, wann ich entbinde. Es war gerade einmal Halbzeit. Ich war glückselig mit meiner Kugel, M war happy mir kleine Luftblasen in den Bauch zu zaubern und morgens immer schon vor mir wach. 

Nach etwa acht Kugelmonaten hörte M langsam auf sich zu bewegen. Die Bauchtritte nahmen innerhalb von zwei Tagen rapide ab, sodass wir eines schönen Weihnachtsmorgens direkt in die Frauenklinik fuhren. „Etwas stimmt nicht“, sagte ich zu Ms Papa. „M reagiert nicht mehr“, sagte ich in der Klinik. Sechs Stunden CTG folgten. Am Ende: der Not-Kaiserschnitt. Rettung in letzter Sekunde, wie die Ärztinnen mir in den Tagen danach mitteilten.

Kein Babyschrei, kein Kuscheln, kein Kennenlernen, kein Blickkontakt. Erst einige Stunden später durfte ich meine Tochter sehen. Wie Dornröschen selig schlafend im Inkubator. An allerlei Kabeln angesteckt, unbekannten Gerätschaften im Schlepptau, und Schläuchen in Kopfhaut, Nase, Mund, Nabelschur. 
„Schön ist sie, so schön“, dachte ich mir. 

„Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Tochter. 
Sie ist jetzt stabil und wird versorgt.“

Diesen Satz werde ich nie vergessen. Und die Tränen in den Augen der OP-Schwester der Neonatologie ebenso wenig.

Da liege ich nun auf der Frauenstation. Mein Kind auf der Neo-Intensiv-Station. Mein dicker Bauch: leer.

Vier Tage lang besuchen wir unser Kind, reden ihm gut zu, weinen und lachen gleichzeitig, und desinfizieren uns, ziehen Schutzausrüstung an, um ja keinen Keim auf die Station zu schleppen. Lange stehen kann ich aufgrund der Bauchoperation nicht. Ich sitze im Rollstuhl und meine Hände sind auf meinem Kind im Inkubator. Vier Tage lang. Vier Tage ohne vollen Körperkontakt.

„Wir warten jetzt die Nacht ab, und den nächsten Tag“, so die Aussage der Ärzte. Vier Tage lang.

Ms Blut floss innerhalb weniger Tage in meinen Kreislauf, und so erlitt sie sukzessive einen eklatanten Sauerstoffmangel, es war kurz vor knapp. Zur Geburt war sie kreidebleich und konnte unter anderem nur mit einer Höchstdosis Bluttransfusion – sogar über den Mund gelöffelt – gerettet werden. 
(Ihr macht einen so wichtigen Job, liebe Pfleger und liebe Ärzte!) 
Eklatanter Sauerstoffmangel im ganzen Körper führten zur Diagnose: Infantile Cerebralparese. Schwere Hirnschädigung. 

Am vierten Lebenstag meiner Tochter dann einige gute und einige schlechte Nachrichten: 

M darf „kangoo-ruhen“, aus dem Inkubator heraus, inklusive Kabel und Schläuche, auf meine Brust, auf meinen Bauch, in den direkten Körperkontakt, nackt. Ich bin die glücklichste Mama der Welt.

Eine weitere gute Nachricht: M erholt sich erstaunlich gut. Fast ein Wunder. Nach Kreislauf-Kollaps, nach Lungenversagen, nach schwerstem Sauerstoffmangel, nach Blutarmut. Sie ist eine Kämpferin, und das sind bei weitem nicht alle Kinder auf der Neo-Intensiv in diesen Tagen um Weihnachten 2017 herum.

Eine schlechte Nachricht an diesem Morgen: der Papa darf aufgrund einer Infektion nicht auf die Neo-Intensiv-Station. Er darf sein Kind nicht halten. Und ab sofort auch nicht mehr besuchen. 

Eine weitere schlechte Nachricht: Alle Organe im Bauch hätten sich zwar erholt, doch die Schwere der Schädigung im Gehirn bleibt abzuwarten. Es ist alles möglich. Und nichts.


Nach sieben Tagen nur auf der Neo-Intensiv wird unser Mädchen auf die Normalstation verlegt. 

Wir sind guter Dinge und voller Dankbarkeit. Und fast zeitgleich macht sich in uns eine unfassbar große Ungewissheit breit: was, wenn M nie fähig sein wird, sich selbst zu versorgen. Was, wenn unsere Tochter eine oder mehrere Baustellen hat, Behinderungen, die sie hindern ein glückliches, selbst bestimmtes und freies Leben zu führen. Und was, wenn wir selbst einmal zu alt sein werden, um uns um sie zu kümmern?

Ein erster Vorgeschmack auf Fragen, auf all diese brennenden Fragen, die uns die nächsten Jahre begleiten werden. 

Ich erinnere mich an die Erfahrungen, die ich bisher mit Kindern mit Behinderungen machen durfte. Und mein Herz geht auf.

 

Ein schlauer junger Mann, mein jüngerer Bruder, sagte mir einmal: bis zum 3.Lebensjahr etwa erkennt man, wohin die (Entwicklungs-)Reise unserer Tochter mit ihrer Diagnose Infantile Cerebralparese gehen wird. Und womit wir rechnen können, und womit eben nicht. Das Gehirn ist plastisch genug, um sich vielleicht – da gesunde Bereiche vorhanden sind – in den ersten Lebensjahren so entwickeln zu können (!), dass vieles, ja sehr vieles möglich ist. Das wiederum kommt auf die Qualität der Förderung an, auf die Laune der Natur, und vor allem aber auf die Motivation des Kindes.

 

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Spulen wir also drei Jahre vor: M ist heute kognitiv voll da, sie versteht alles, was man von ihr will, kann ihren Willen äußern, um elementare Bedürfnisse zu stillen. Keine geistige Behinderung erkennbar. Ja, gut, vielleicht ein Sturkopf. 😉 

Motorisch ist M mit drei Jahren auf dem Stand eines Babys. Sie kann greifen, sie kann für eine kurze Dauer sitzen – wenn man sie hinsetzt – sie kann aber (noch?) nicht robben, krabbeln, sich selbst hinsetzen, abstützen, stehen, gehen, laufen, essen, sprechen...

 

Hier sind wir also hineingeworfen worden:
welcome to our new life - all inclusive

 

Willkommen bei der Krankenkasse, der Pflegekasse, den integrativen Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen, im Sanitätshaus, im Kinderhaus, in der Frühförderung, in Sozial-Pädiatrischen Zentren! 

Willkommen, liebe Sorgen, liebe schlaflosen Nächte, liebe mitleidige Blicke! 

Willkommen in einer Möchte-gern-inklusiven Gesellschaft.
Gesellschaft klingt so abstrakt, als wären das die anderen. 

Nein, falsch gedacht! 

Das sind Freunde, Bekannte, Familie, Nachbarn, Therapeuten, Erzieherinnen, Heilerziehungspflegerinnen, Sanitätshausmitarbeiter, Kinderärzte, Kinderorthopäden, Neurologen, Physiotherapeutinnen, Ehrenamtliche im sog. Familien-Entlastenden-Dienst, Mitarbeiter der Kranken- und Pflegekassen, der Frühförderung, Logopäden, Nachtschwestern... 

Und die denken nicht alle inklusiv. Manche denken manchmal gar nicht, nach meinem Geschmack. Dazu aber anderer Stelle mehr.

Den Begriff Inklusion verbinden viele automatisch mit dem Begriff Behinderung. Ach, denkt sich vielleicht mancher, da soll jemand inklusiv betreut/beschult/be-sonstwas werden, brauch ich nicht, will ich nicht, kenn ich nicht, hab ich nichts damit zu tun.

Ich bin der Meinung, doch, hast du: 
Schau mal den jungen Nachbarn an, der mit seinem Rollstuhl jedes Mal über dieses blöde Kabel im Hausflur fahren muss! 
Schau mal deine Bekannte an, die wenig über ihr Kind erzählt, war da nicht was bei der Geburt? 

Ich bin der Meinung, dass wir alle früher oder später mit dem inklusiven Gedanken zu tun haben werden. Dann nämlich, wenn entweder unsere Großeltern, unsere Eltern, wir selbst oder unsere Kinder nicht (mehr) ohne die Hilfe anderer ihr Leben frei gestalten können, und doch teilhaben wollen (und sollen!), also wichtiger Teil eines großen Ganzen zu sein.

Inklusion geht uns alle an. Jeder entscheidet selbst, wie viel er damit zu tun haben möchte, wie viele Gedanken er sich dazu machen möchte, wie viel er ausblenden möchte oder wie viel er beitragen möchte. 

Wieviel möchtest du?